SK 2011 34 - Zulassung als Privatkläger (Leitentscheid)
SK-Nr. 2011 34
Urteil der 2. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern,
unter Mitwirkung von Oberrichterin Bratschi (Präsidentin), Obergerichtssuppleant Santschi, Oberrichterin Hubschmid Volz sowie Gerichtsschreiberin Rodriguez
vom 28. Juni 2011
in der Strafsache gegen
1. A.
verteidigt durch Rechtsanwalt X.
Angeschuldigter/Privatkläger/Appellant
2. B.
verteidigt durch Rechtsanwalt Y.
Angeschuldigter/Appellant
3. C.
verteidigt durch Rechtsanwalt Z.
Angeschuldigter/Privatkläger/Anschlussappellant
gegen
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Maulbeerstrasse 10, Postfach 6250, 3001 Bern
wegen einfach Körperverletzung, etc.
Regeste:
Die Vorinstanz hatte dem freigesprochenen Angeschuldigten die Privatklägerstellung aberkannt, weil er auf dem Formular bei der Polizei die entsprechenden Felder mit «Nein» angekreuzt hatte. Das ist überspitzt formalistisch, zumal dem damals noch nicht anwaltlich vertretenen Angeschuldigten offensichtlich nicht bewusst war, was dieser Verzicht bedeuten würde. Es liegt deshalb kein rechtsgültiger Verzicht auf die Konstituierung als Privatkläger vor.
Auszug aus den Erwägungen:
[...]
VIII. Zivilpunkt
1. Zivilklage des C.
1.1. Konstituierung als Privatkläger
C. reichte am 25. Januar 2010 bei der Vorinstanz eine Zivilklage samt Beilagen gegen A. und B. ein (pag. 128 ff.). Zuvor hatte er bei der Polizei die Formulare «Strafantrag - Privatklage» ausgefüllt (vgl. pag. 24 f.), wobei darauf die Felder Privatkläger im Strafund Zivilpunkt mit «Nein» angekreuzt wurden (pag. 499; anders das Formular betreffend Sachbeschädigung [pag. 25]).
Die Vorinstanz stellt sich auf den Standpunkt, dass ein ausdrücklicher Verzicht auf die Konstituierung als Privatkläger unwiderruflich ist, sofern kein Irrtum ein sonstiger Willensmangel vorliegt (mit Verweis auf Maurer Thomas, Das bernische Strafverfahren, 2. Auflage, Bern 2003, S. 139). Obwohl ein Mangel an Aufmerksamkeit beim Ausfüllen der Formulare bei der Polizei gerichtsnotorisch sei, könne deswegen noch nicht geschlossen werden, C. habe sich in einem berechtigten Willensmangel befunden. Vielmehr gehe das Gericht davon aus, dass er gewusst habe, wofür er unterschreibt, insbesondere deshalb, weil das Formular über die Sachbeschädigung anders ausgefüllt worden war. Des Weiteren sei ein Willensmangel von C. nie geltend gemacht worden. Demnach habe C. endgültig auf die Einreichung einer Zivilklage verzichtet. Seine vor Gericht geltend gemachte Zivilforderung wurde deshalb ohne Ausscheidung von Verfahrenskosten zurückgewiesen (pag. 499 f.).
Rechtsanwalt Z. macht hingegen geltend, bei C. handle es sich um einen juristischen Laien. Die Bedeutung der Verzichtserklärung auf eine Konstituierung als Privatkläger sei ihm damals nicht bewusst gewesen. Ihm sei nicht bewusst gewesen, dass er den Selbstbehalt infolge des Spitalaufenthaltes aus der eigenen Tasche bezahlen müsse. Weiter habe er als juristischer Laie auch nicht gewusst, dass er sich als Privatkläger konstituieren müsse, wenn er im Strafprozess eine Genugtuung für die erlittene Unbill geltend machen wolle. Demzufolge sei er an die damalige Verzichtserklärung nicht gebunden (pag. 129 und pag. 587 f. mit Verweis auf Maurer, a.a.O., S. 140).
Den Ausführungen von Rechtsanwalt Z. ist vollumfänglich beizupflichten. Bei der Frage der Bindungswirkung eines Verzichts übt die Praxis Zurückhaltung aus, wenn die Verzichtserklärung von einem juristischen Laien abgegeben wurde, weil diesem das Institut der Privatklägerschaft und die Folgen eines Verzichts nicht ohne weiteres klar sind (vgl. hiezu Maurer, a.a.O., S. 139 und 140 sowie der dort zitierte Entscheid der Anklagekammer vom 7. April 1998 AK 1998/155). Aktenkundig ist, dass C. erst ab dem 16. Oktober 2009 anwaltlich vertreten war (pag. 120). Die Behörden trifft grundsätzlich eine Pflicht, anwaltlich nicht vertretene Geschädigte im Fall unklarer Äusserungen Eingaben auf die Formerfordernisse der Privatklägerschaft aufmerksam zu machen. Wenn sich aufgrund einer Laienerklärung nicht ergibt, ob sich ein Geschädigter als Privatkläger konstituieren will, muss die Untersuchungsbehörde rückfragen (vgl. Maurer, a.a.O., S. 138 f.). Dass ein Laie überfordert ist, ein entsprechendes Formular korrekt ausfüllen zu können, liegt auf der Hand, zumal die Konstituierung als Privatklägerin nicht gleichzeitig mit der Anzeigeerhebung erfolgen muss, die Praxis der Polizei aber dahingehend ist, dass das Ausfüllen dieses Punktes auf dem Formular in jedem Fall entweder in die eine in die andere Richtung verlangt wird. Ginge man vorliegend von einem definitiven Verzicht der Privatklage durch C. aus, so wäre dies überspitzt formalistisch, zumal ihm die Bedeutung dieses Verzichts - d.h. die Tatsache, dass er einen Selbstbehalt für Spitalkosten selber bezahlen muss und keine Genugtuung beantragen kann offensichtlich nicht bewusst war (vgl. ebenso Urteil der 2. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern vom 5. Oktober 2010 [SK 2010/6], bundesgerichtlich bestätigt am 23. Mai 2011 [BGE 6B_20/2011]).
Mit anderen Worten liegt kein rechtsgültiger Verzicht auf die Konstituierung als Privatkläger vor und die Zivilklage vom 25. Januar 2010 (pag. 128 ff.) ist gerichtlich zu beurteilen.
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